Donnerstag, 24. November 2011

Die Zeit und die Schwytz - Da freuen sich die Rindviecher

Pauschal gesagt, es stimmt, die Schweizer sind langsam. Darum haben sie auch das Uhrmacherhandwerk perfektioniert und fahren gerne mit der Bahn. Wobei die in der Schweiz fährt wie ein Uhrwerk. Besser wäre es die Schweizer als gründlich zu beschreiben. Einmal gemacht, hält es ein ganzes Leben lang. So ungefähr. Eine schweizer Uhr die tickt und tickt und tickt.

Stetig aber langsam zieht der Zug vom Bodensee Richtung Zürich. Vorbei an stoisch kauenden Kühen und mittelalterlichen Ortskernen. Stein auf Stein, für die Ewigkeit. Jedes kleine Dörfchen hat eine alte kleine Kirche in seiner Ortsmitte. Keine Bombe ist hier je reingekracht und wird es vermutlich auch nie. Die Schweizer bringt nichts so schnell auf die Palme, nicht einmal die vielen Deutschen, die der Arbeit wegen die letzten Jahre in die Schweiz übergesiedelt oder als Grenzgänger unterwegs sind. Kindliches Unverständnis erntet das Schnelllebige, Ungründliche, Unbewusste...


Eine Frau setzt sich mir im Zug gegenüber. Sie ist um die 50, hat schwarze, krause Locken bis zu den Schultern, blaue auffällige Augen, sonnengegerbte Haut und ein blau-glitzernderndes Nasenpiercing. Sie lächelt mich an. Ich lächle zurück. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche. "Isch gstarba", zuckt mit den Schultern, lächelt versonnen aus dem Fenster und testet meine Reaktion. Ich ahne was sie damit gemeint hat, der Akku ist leer und gebe eine einfallslose Antwort: "Oh, das ist schlecht." Sie blinselt verschmitzt und zuckt wieder mit den Schultern: "Komscht aus Deutschlaaand. Bischt Chrenzgänger?". Nein, nur zu Besuch. Ihr Gesicht hellt sich noch mehr auf.


Kurze Zeit später kenn ich ihre Lebensgeschichte. Sie ist Melkerin und fährt heute nach Hause, nach Winterthur. Vorbei an Kühen, herrschaftlichen, mit Stuck verzierten Wohnblöcken, für die oberen 10.000, die sich schon im 19. Jahrhundeten in Scharen in der Schweiz niedergelassen haben. Sovoir vivre.
Ich habe eine neue Freundin, zumindest für die Zeit bis Winterthur. Sie gesteht mir ihre Liebe...zu den Kühen. Erzählt, wie sie sich eben von jeder einzeln verabschiedet hat. 


Der Start ins Wochenende begann mit zärtlichen Umarmungen. Jede Kuh hat einen Namen. Im Sommer muss sie sich von ihren Lieblingen auf der Wiese verabschieden. Auch im Winter stapft sie durch den Schnee um den kleinen Scheißern noch ein schönes Wochenende zu wünschen. Im Winter? Ja, Schweizer Kühe dürfen oder müssen sogar, tierschutzrechtlich verordnet, im Winter für einige Stunden an die frische Luft. Das werde sogar kontrolliert. "Da sind die Behörden gaaanz streng." Ich mache große Augen und will uns Deutsche ins bessere Licht rücken: "Bei uns kommen Kühe auch raus. Einmal, zum Schlachten." Die Augen meiner neuen Freundin werden so groß wie die einer Kuh. Die Form ihres Mundes zeigt, Schweizern untypisches Verhalten, nämlich großes Entsetzen. Sowas hätte sie nicht gedacht. Dabei sei Deutschland so hoch entwickelt. Den Rest der Fahrt wirkt sie verstört, sie glaube nun, sie wolle nie nach Deutschland.

In Winterthur spricht sich das bestimmt herum, wie wir mit Tieren umgehen. Ich denke noch lange nach, über ihre großen Augen und das Entsetzen in ihrem Gesicht. Sie leben doch tatsächlich in einer anderen Welt, tick, tack. Eine Welt in der es keine architektonischen Behelfsbauten aus den 50ern gibt, keine Kühe, die nie in ihrem Leben einen Grashalm gesehen haben und eine Welt in der Autofahrer es minutenlang dulden, dass ein orientierungsloser Velo-Fahrer ihnen die Zufahrt versperrt.


Oder leben wir in einer anderen Welt? Eine Welt in der Fleisch weniger kostet als ein Apfel. Nur weil sich Äpfel nicht so schnell mästen und so unkompliziert in Massen ernten lassen, wie Rindviecher. 


Ich lobe die Langsamkeit. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen