Sonntag, 27. März 2011

Auf die Größe kommt´s nicht an! Reykjavík vs. Ingolstadt



Jetzt muss doch irgendwann die Stadt kommen“, dachte ich als ich mit dem Flybus von Keflavík, übrigens das Ende der Welt, nach Reykjavík fuhr. „I have to go to downtown Reykjavík“, erklärte ich dem Busfahrer bei der Ankunft am BSI, dem Knotenverkehrspunkt Islands, etwas verwirrt und unsicher. Er erwiderte darauf mit einem verschmitzten Lächeln: „This is downtown Reykjavík“, und deutete auf den kleinen flachen Betonbau, ein paar Parkplätze für Busse und Autos. Darauf konnte ich dann nichts mehr sagen und dachte nur noch „Oh“, mehr nicht. Knapp 120.000 Einwohner habe die Hauptstadt Islands, behauptet Wikipedia. Kaum weniger als meine Heimatstadt Ingolstadt, im Herzen Bayerns, bekannt für überdimensionales Wirtschaftswachstum, äußerst stabile Arbeitsplatzsituation gepaart mit charmanter Industriearchitektur wie Raffinerietürmen und natürlich Audi.

Das klingt nach einer Feldstudie: Vergleiche das Leben in einer kleinen Großstadt im Herzen Bayerns mit dem Leben einer fast gleich großen nordischen Hauptstadt.

Erste Erkenntnis: Der Busbahnhof ist nicht mitten in der Stadt. Minus für Reykjavík. Zweite Erkenntnis: Es gibt deutlich mehr kontaktwillige Fremde, die ebenso hilflos durch die Gegend irren, wie man selbst, von daher findet man schnell Anschluss und für meinen Fall, als völlig planlose Couchsurferin, einen sicheren Schlafplatz und eine Leidensgenossin, die ebenso verwirrt mit mir die Stadt erkundete, in der so ziemlich alles anders ist als zuhause. Gravierender Unterschied: die Menschen in Reykjavík verstehen kein Bayerisch, es sei denn man triff auf einen der zahlreichen deutschen Touristen, die hier deutlich sichtbar durch die Straßen wandern, da ist mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit einer „bavariaphon“. Wie man sie erkennt? Ja natürlich an den Sandalen, den bis zur Mitte der Wade hochgezogenen weißen Socken, den Bermudashorts, der obligatorischen Spiegelreflexkamera, am Besten noch analog, um den Hals und zu guter Letzt an der recht auffälligen bunten Regenjacke, die vor dem launischen nordischen Wetter schützen soll. Ein Merkmal, das fast alles Touris auszeichnet, ist ihre ziemlich heftige Erkältung, ein Tribut an das ungewohnt häufig wechselnde Wetter auf Island. Waschechte Isländer, oder solche die schon an das rauhe Kilma gewohnt sind erkennt man ganz einfach an dem lässig getragenen T-Shirt, egal bei welcher Wetterlage, ein Umschwung wird kaum wahrgenommen. Aber nun zurück zur Feldstudie.

Während in Ingolstadt Festungsbauten das Stadtbild dominieren, herrscht in Reykjavík einfach nur die Planlosigkeit der Stadtplaner, falls die überhaupt vorhanden waren. Die typischen niedlichen, mit buntem Wellblech isolierten Häuschen stehen direkt neben 10-stöckigen Glasbunkern von Banken und Versicherungen. Dieses unkoordinierte Nebeneinander stört die Isländer kein bisschen, sie machen das Beste daraus. Damit wären wir schon beim Kunstverständnis, das vor allem aus der Kunst zu improvisieren besteht. „Everybody here is a little artist“, hat ein schon länger in Island lebender Italiener gemeint. Damit hat er wohl recht, überall an den Hauswänden zieren ausgefallene Graffitis die Wände oder Selbstgebasteltes findet sich vor der Haustüre, manchmal sogar Blumen auf der Hutablage im Auto. In meiner Heimatstadt ist Kunst etwas, das weggesperrt wird, in irgendwelchen Festungsbauten sein Dasein fristet, worüber man streitet, ob es tatsächlich noch ein Museum braucht oder ob das wirtschaftlich nicht doch unrentabel ist für eine der wirtschaftsstärksten Städte Deutschlands. Im überschuldeten Reykjavik kann nicht nur die Nationalgalerie mit Werken von Edvard Munch kostenlos besichtigt werden. Die Kunst in Reykjavík ist zum Anfassen, auch die Kunst zu Leben. Wenn das Wetter Kapriolen schlägt und der Regen auf den Kopf tropft, die Isländer sitzen in ihren Swimming Pools und genießen das Leben. Die Pools sind mit dem auf der Halbinsel Reykjanes (heißt soviel wie rauchende Bucht, sagt zumindest mein Reiseführer) heißen Quellwasser gefüllte Wasserbecken und so ziemlich die einzige günstige Freizeitbeschäftigung die es auf Island gibt, zumindest für deutsche Preisvorstellungen. Zum Teil sogar kostenlos! Und es ist exakt dasselbe Wasser, wie das in der berühmten Blauen Lagune, nur ohne Schlamm. Ihr Wasser müssen sich die Ingolstädter schon noch selbst beheizen, dafür sind ganz unromantisch die Stadtwerke zuständig, keine kleinen in unterirdischen Behausungen lebende Trolle. So manchen Isländer lässt der Glaube an mythische Wesen auch nach der Christianisierung der Insel nicht los, aber, dass sie glauben, für die heißen Quellen seien Kobolde und Trolle verantwortlich, ist doch eine Erfindung von mir. Trotzdem sind diese Wesen in der Kultur Islands immer noch präsent und sie werden respektiert. Das klingt für uns ziemlich abwegig, kein Ingolstädter glaubt an Trolle, dafür an den Lieben Gott und die stetig steigenden Absatzzahlen von Audi.

Wie im Rest Bayerns ist auch in Ingolstadt der Katholizismus die tragende Religion und der Großteil denkt auch gar nicht so viel darüber nach was sie eigentlich glauben. So haben die Isländer und die Bayern doch fast was gemeinsam: den Glauben an mythische Wesen. Irgendwie ist der Liebe Gott doch ein Wesen, das ziemlich real ist und zudem Ungläubige bestrafen kann. Gut, eine extra Suppenschüssel für den Lieben Gott stellen die Bayern jetzt nicht auf, bisher wurden auch noch keine Straßen wegen ihm verlegt und beim Bau des neuen Güterverkehrszentrums im Norden Ingolstadts wurde seine Meinung, meines Wissens nach, auch nicht angehört. Denn ein ziemlich reales Gebilde läuft dem Lieben Gott so langsam den Rang ab: Audi! Sozusagen, das Goldene Kalb der Ingolstädter, demnach wären wir ja auch das auserwählte Volk Bayerns, ach was, Deutschlands oder gar Europas. Schließlich hat sich Ingolstadt, dank Audi, äußerst unbeschadet durch die Wirtschaftskrise manövriert. So wird fröhlich um die vier Ringe getanzt. Solange die Absatzzahlen bei Audi stimmen, ist der Ingolstädter glücklich, schließlich bedeutet das sichere Arbeitsplätze. 




Ganz soviel zu feiern haben die Isländer, insbesondere die Einwohner Reykjavíks eigentlich nicht: Banken pleite, das Land hochverschuldet und der Fischfang war auch schon einmal einträglicher. Dafür boomt der Tourismus, dank günstig stehender Devisenkurse. Also auch eine wirtschaftliche Monostrukutur. Aber wie schon erwähnt beherrscht der Isländer die Kunst zu improvisieren und sie vertreiben die Trübsal der Wirtschaftskrise in ihren Swimming Pools oder wundern sich auf der Haupteinkaufsstraße Rekjavíks, Laugavegur, über die seltsamen Angewohnheiten der Touristen. Wobei, wahrscheinlich interessiert sie das gar nicht so sehr. Denn an Eigenheiten mangelt es keinem Isländer. Niemand dreht sich um, wenn ein junger Mann in engen, glänzenden, leuchtendpinken Leggings die Straße kreuzt, es nimmt auch keiner Notiz von Menschen, die sich auf der Straße ihren Rausch ausschlafen. Davon gibt es in den Sommermonaten so einige. Da es so gut wie überhaupt nicht dunkel wird, wird im Sommer kaum geschlafen und deutlich mehr gefeiert.


Eine Stadt lebt von ihren Bewohnern: die Bewohner Rekjavíks sind kreative, offene Menschen, aber manchmal auch ein wenig störrisch und schüchtern. Sie brauchen ein Weilchen bis sie einen von sich aus ansprechen, schneller geht’s wenn sie betrunken sind. Das sind sie im Sommer sehr oft. Genau wie die Ingolstädter, nur noch exzessiver. Unsere Nächte sind im Sommer nicht halb so hell, aber das macht nichts, dafür ist das Bier deutlich billiger und auch besser. Für 0,4 Liter absolut gräßlichen Gesöffs blätterte ich in Reykjavík umgerechnet 8 Euro hin, was sogar noch billig war. Kreativer und offener werden die Ingolstädter trotz reichlich Bier aber nicht. Da wird noch mal kurz vor der Alf Lechner Skulptur rückwärts gegessen und zum Saufkumpanen ein „Wos soi na eigentlich der Schmarrn?“ rübergelallt (ernsthaft, selbst beobachtet). Dann ab ins „Amerl“. Touristen sieht man erst seit kurzem in der Altstadt mit diesen auffälligen roten Stadtplänen aus der Touristinfo umherstreunen. Sie werden eher argwöhnisch bestaunt, bloß nicht ansprechen, es könnten ja Franke sein oder noch schlimmer „a do schaug her, a Chines“. Ja, an der Offenheit müssen sie noch arbeiten, die lieben Ingolstädter, auch an der Toleranz und Kreativität. Stichwort „Alf Lechner“: Seine verrosteten Stahl-Skulpturen stehen überall in der Stadt, nur kein Bewohner kann damit scheinbar was anfangen. Auch mir ist ihre Bedeutung bisweilen schleierhaft. Eine große Tageszeitung in der Region stellte Lesern die Frage: „Was braucht Ingolstadt überhaupt nicht?“ Das erste was einem Mann um die 40 darauf einfiel, waren die Kunstwerke von Alf Lechner. Wenn der gute Herr im nächtlichen Suff einmal gegen das Lechner-Museum gelaufen wäre, könnte ich seinen spontanen Gedanken über die Nützlichkeit der Kunstwerke fast nachvollziehen. Davon hat er dem Reporter aber zumindest nichts erzählt.


Warum sind die Isländer toleranter gegenüber Fremdem, was Kunst für die meisten auch ist. Das Klima zwang die Isländer schon immer zu Bescheidenheit, das Land ist karg und das Wetter macht was es will. Die Natur neigt zum Extremen: Feuer und Eis, heiße Quellen und Gletscher, Schnee und Sonnenschein. Da musste man offen sein, warten was kommt und sein Schicksal annehmen, das Beste draus machen: Improvisieren. Das Leben ist eben selten perfekt und wenn man das erkannt hat fällt es leichter offen und tolerant zu sein. Für ein Problem, das von außen kommt, könnte auch eine Lösung folgen. Seit Jahren kommen nicht nur viele Ausländer auf die Insel, die Isländer waren im Gegenzug durch das harte Leben auf ihrer Insel schon immer gezwungen oder gewillt für eine Zeitlang ihr Land zu verlassen und ihr Glück im Ausland zu suchen und das obwohl es oft heute noch schwer ist von dem Eiland aus Schnee und Eis wieder wegzukommen. Die Busse am BSI fahren und kommen gern mal mit einigen Stunden Verspätung oder eben gar nicht. Der Flughafen liegt in „little Mordor“, der Check-In ist oft stundenlang verwaist und außer einer einsamen Putzfrau sieht man niemanden der Angestellten auf dem Flughafen. Während sich das Bodenpersonal gerade Pizza liefern lässt, lungern unzählige deutsche Touristen in der Wartehalle herum und bangen um ihren Flug, der vermutlich erst starten wird, wenn der Pilot die letzten Pizzakrümel zusammengekratzt hat. Alles mit der Ruhe, mitten im Atlantik unweit des Nordpols.


Abgelegen war Ingolstadt dagegen nie, trotzdem hat sich für die Provinz jahrzehntelang niemand interessiert. Früher war das Millitär da, das es in Island gar nicht erst gibt, und nahm die ganze Stadt in Anspruch, erst nach dem zweiten Weltkrieg erlangte die Stadt durch die Auto Union wieder überregionale Bedeutung. So wandern heute Tag für Tag Heerschaaren von Bandarbeitern durch die Werktore. Von Zeit zu Zeit holen Prominente sich einen Audi aus dem repräsentativen Kundencenter des Automobilherstellers und es trauen sich sogar ein paar Touristen an die Donau. Bietet sich ja an, Ingolstadt liegt gut eingebunden in die Infrastruktur mitten in Bayern und verfügt über einen historischen Altstadtkern, der schön herausgeputzt ist. Das erlaubt die Wirtschaftskraft, nicht nur wegen Audi, sondern auch wegen der guten Lage im Städtedreieck München/Nürnberg/ Augsburg, am Rande des größten Hopfenanbaugebietes, der Hallertau, unweit des Flughafens Erding und am längsten Strom Europas, der Donau. Zwangsweise verlassen müsste diese Stadt niemand, Arbeit und zu Essen gibt’s genug. Dabei wäre Reisen hier so einfach, die Busse fahren sogar pünktlich und es gibt gute Zugverbindungen in die Nachbarstädte, ja und geteerte Straßen, sogar noch 10 Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen, anders als in Reykjavík.


Wie wär´s mal mit einer Reise nach Regensburg, mal schauen wie die Oberpfälzer so ticken, ein ganz unbekanntes Volk. Wenn man nicht ganz so weit weg von zuhause sein will, könnte das Abenteuer auch schon am Busbahnhof starten, zwei Stationen weiter ins Museum für Konkrete Kunst, da täten sich ganz neue Welten auf.


Der Kulturschock durch eine Reise nach Reykjavík wäre vielleicht doch etwas zu groß, denn die Stadt im hohen Norden und die in der Mitte Bayerns unterscheiden sich deutlich voneinander. Angefangen vom Kunstverständnis und der Stadtplanung bis hin zur Auffassung über die Pünktlichkeit der abfahrenden Busse. Gemeinsam haben Ingolstadt und Reykjavík eigentlich nur, die annähernd gleiche Größe, sonst nichts.


Kontraste in Reykjavík.

Everybody is an artist in Iceland, auch so mancher Autofahrer...
Kunst in Ingolstadt.
Wahrzeichen Ingolstadts: Das Kreuztor. Nur eines der historischen Bauwerke.